Samstag, 26. September 2015

# 00007



Der Geiger


Das alte Fotoalbum lag noch in seinem Zimmer. Vorsichtig blättere ich durch die Seiten, tauche ein in Zeiten, an die ich keine  Erinnerung haben kann. Die meisten Fotos sind sepiabraun. Nicht nachträglich durch einen Effekt digitaler Bearbeitungsprogramme erzeugt, sondern tatsächlich aus einer Zeit, in der Fotos nun mal oft sepiabraun waren.

Wie alt er damals wohl war? Anfang bis Mitte 30 vielleicht? Nur wenige Jahre älter als ich es im Moment selbst bin. An einem Bild bleibt mein Blick hängen. Stolz posiert er in feinem Zwirn, im Arm eine Geige. Nie habe ich ihn zuvor so gesehen. Nie mit einem Instrument. 

Man erzählt mir, er spielte die Geige oft, mit viel Leidenschaft und nicht immer zur puren Freude seiner Mitmenschen. Manchmal frage ich mich, wie sein Geigenspiel wohl klang. Ich glaube, es muss sich sehr schön angehört haben. Sicher nicht wie bei Paganini. Er hatte sicher seine ganz eigene Art von Perfektion. Gerne hätte ich seine Melodien selbst gehört. Aber das ging nicht. Als wir uns trafen, gab es die Geige längst nicht mehr.

Musik brachte er dennoch stets in mein Leben. Sei es mit Poesie, Schönheit oder der schützenden Hand, die er die ganzen Jahre über mich und all die anderen gehalten hat. So brachte er unsere Lieder zum Klingen. Im Herzen werde ich daher immer seine letzten unvergesslichen Töne tragen, die er mit seiner Hand erschuf, als er meine Hand drückte. Einmal, zweimal, dreimal.

Happy Birthday, Opa.

Donnerstag, 10. September 2015

# 00006


In der Uni bin ich jeden Tag fremden Menschen begegnet. Ein Pool aus Studenten, die man trotz jahrelanger Routine noch nie zuvor gesehen hat. Und in der Uni bin ich jeden Tag meinen vertrauten Menschen begegnet. Ein bunt gemischter Haufen, den ich nicht mehr missen möchte. Ein Konglemat von Verrückten, die mit mir über die albernsten Sachen lachen und die stressigsten Zeiten entschleunigten. Und in der Uni bin ich fast jeden Tag diesem einen Jemand begegnet. Dieser Jemand, von dem ich bis zum heutigen Tage nicht mal seinen Namen weiß, von dem ich nur vermute, was er studiert, von dem so rein gar nichts weiß, außer dass ich ihn einfach nur gerne ansehen möchte. Stunde um Stunde. Tag für Tag. Wenn du diesen jemand nicht vergessen kannst, obwohl du längst die wilden Studentenzeiten hinter dir gelassen hast, dann hat es dich a.) entweder ganz schön erwischt oder du hast b.) ein Problem. Manchmal auch beides. Zur gleichen Zeit.

Eigentlich ist es ganz einfach. Meine Schwärmereien verlaufen meist nach demselben Muster. Ich sehe jemanden, finde ihn interessant, spreche ihn nie an und vergesse ihn ohne einen Moment der Reue nach ein paar Tagen wieder. Und von diesen Schwärmereien gab es viele. Besonders in den vier Jahren, in denen ich mir fast jeden Tag meine Zeit im Philosophicum der Universität Mainz vertrieben habe. Doch wer kann mir dies schon verübeln? Ist dieses Gebäude doch das Mekka schöngeistiger Seelen, deren Persönlichkeiten so unglaublich vielseitig und facettenreich sind. Diese Menschen waren schön, nicht im herkömmlichen Sinne, aber in dem einzig wahren. Sie hatten alle etwas Besonderes, was über gutes Aussehen hinaus geht. Trotzdem stach dieser eine Jemand immer aus dieser Masse von Besonderen raus. Es war sein in Gedanken versunkener Blick, sein Auftreten und etwas oberflächlich gesehen, seine Haarstruktur. Je mehr Zeit verging, desto mehr Schönheit fand ich in ihm. Je mehr Schönheit ich in ihm fand, desto mehr versagte meine Fähigkeit des Sprechens.

"Hallo. Du bist so schön." Was hätte ich ihm denn auch erzählen sollen, was er noch nicht wusste oder was ihn interessiert? Was würde er denken, würde ich ihm von meiner Konzerthistorie berichte? Was hielte er wohl davon, wenn er wüsste, dass ich in meinem Leben mehr träume als plane? Wie fände er es wohl, würde ich ihm zeigen, was es für mich bedeutet, glücklich zu sein? Wie um alles in der Welt sollte jemand wie ich jemanden wie ihn beeindrucken? Würde er überhaupt mit mir sprechen wollen? Jahrelang saßen wir nebeneinander und er hat nie ein Wort gesagt. Ich redete mir, er wüsste ebenso wie ich einfach nicht, was er sagen könnte. Insgeheim dachte ich mir, er hätte schon seine Gründe. Außerdem befürchtete ich, er könnte mich einfach fortschicken und ich dürfte ihn dann nicht weiterhin ansehen. Und sowieso... Wer sagt denn, dass er mich je wahrgenommen hat?

Also blieb ich stumm und harrte aus. Nicht dazu gewillt, die Vorstellung, die ich von ihm hatte, zu zerstören. Im Sommer letzten Jahres sagte ich ihm daher leise "Leb wohl". In dem Wissen, ihn nie wieder zu sehen und dich bald vergessen zu haben. Die Welt stand mir offen. Und auf die Pläne, die die Zukunft für mich bereithielt, ließ ich mich ohne Zögern ein. 
Seitdem ist viel in meinem Leben passiert. Schlimme Dinge, die meine Welt bis ins Tiefste erschüttert haben. Darüber hinweg getröstet hat jedoch mich stets der Gedanke an all das Gute, was mir nichtsdestotrotz widerfahren ist. Lang gehegte Wünsche, die auf unwirkliche Weise zur Realität wurden. Ich erkannte, dass man mit Positivität und einem entschiedenen Schritt in die richtige Richtung alles schaffen kann, was man sich vorgestellt hat. Darum ergab ich mich meinen Träumen. Angeblich stammen diese nächtlichen Fantasiegebilde ohnehin aus dem Unterbewusstsein. Und wenn dies der Fall ist, dann wollte mir mein Unterbewusstsein wohl unentwegt Erinnerungen daran schicken, dass ich mit der schönen Stadt am Rhein längst nicht fertig bin.

Aus diesem Grund kehrte ich vor ein paar Wochen an einem Tag im Juli zurück nach Mainz. In mein Mainz oder zumindest jenes, das ich im Herzen trug. Davon ging ich zumindest aus. Es gibt Dinge, von denen ich dachte, dass sie sich niemals ändern würde. Vielleicht sind es Dinge, die anderen Menschen gar nicht so sehr gravierend auffallen, doch ich nahm sie wahr. Die muffigen, alten Waggons der S-Bahn, in denen ich so oft die (mindestens) 38-minütige Fahrt bestritt, wurden durch neue, unmuffige Modelle ersetzt. Meine liebste Buslinie von allen fuhr nicht mehr im Kreis. Und ich gehörte eigentlich gar nicht mehr dorthin. Auf den alten Wegen traf ich kaum ein vertrautes Gesicht. Die Mauern des Philosophicums schwiegen mich zur Begrüßung an. Beinahe fühlte ich mich unwillkommen, bis ich merkte, dass ich im Grunde einfach nur fehl am Platz war. Planlos, beinahe verloren, geschmückt mit einem kleinen Funken Hoffnung fand ich mich zwischen all den wissbegierigen Menschen wieder, die alle einen plausiblen Grund hatten, dort zu sein. Und ich? Ich hatte nur eine Dose voller Kekse und den einsamen Wunsch, ihn noch ein einziges Mal wiederzusehen.

Und dann ich sah ihn, diesen Jemand, an diesem Tag. Dort, wo ich ihn immer sah. Am selben Ort, der es immer war, über all die Jahre. Ich bemerkte deutlich, dass er mich ebenfalls gesehen hat und dann sah ich ihn gehen. Schon wieder. Zurück blieb nur ich allein, verzückt von der Tatsache, dass ich in seinem Bewusstsein sehr wohl zu existieren scheine und enttäuscht von meiner eigenen Unfähigkeit, mit ihm zu sprechen.